Das Berlaymont-Gebäude, Sitz der EU-Kommission, mit einem Banner:
"Du kontrollierst den Klimawandel." Ach so? Der Appell der EU-Kommission an die individuelle Verantwortung hat nicht gereicht, jetzt soll die Geopolitik ran. (Foto: Georges Boulougouris/EU)

Noch vor einem Jahr war Klimapolitik etwas für Fachpolitiker mit einem Faible für Abkürzungen wie "LULUCF". Doch das hat sich geändert: Jetzt geht es bei Klimapolitik um Macht. Letzte Woche schrieb der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell: "Europa muss eine globale Klimamacht werden."

Der Grund für die Aufwertung der Klimapolitik ist die veränderte Wahrnehmung des Klimaproblems. Während früher Klimaschutz als Kostenfaktor galt, gilt er heute als entscheidend für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit.

Das machte letzte Woche EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen klar. Nachdem sie die Rückkehr der USA ins Pariser Klimaabkommen begrüßt hatte, sagte sie, der Schritt sei "ein weiterer Grund für Europa, seine Bemühungen zu beschleunigen, rasch zu handeln und seinen Vorreitervorteil zu bewahren. Dies ist wichtig, ich befürworte den Wettbewerb."

Von der Leyens Selbstbewusstsein zeigt, dass die EU aus ihrer Sicht gute Karten für diese neue Phase der internationalen Klimapolitik hat. Früher hingen Fortschritte im Kampf gegen die Klimakrise von der weltpolitischen Großwetterlage ab. So kam das Paris-Abkommen zustande, weil die beiden mächtigsten Akteure, die USA und China, zuvor eine bilaterale Verständigung gefunden hatten.

Doch in der neuen Phase ist es genau umgekehrt: Gute Klimapolitik verleiht einem Land nun Macht. China hat das erkannt und daher im Oktober, kurz nach dem virtuellen EU-China-Gipfel, angekündigt, im Jahr 2060 CO2-neutral wirtschaften zu wollen.

Gleichzeitig hat China damit die Rolle der EU aufgewertet. Olivia Lazard vom Thinktank Carnegie Europe schrieb damals: "Das ist eine geopolitische Chance mit sofortigen Vorteilen, die den europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Silbertablett angeboten wird."

Klimapolitik in neun Dimensionen

Doch wo liegen diese Vorteile und wie kann sie sich Europa sichern? Um die Frage zu beantworten, muss man die verschiedenen Dimensionen von Klimapolitik in dieser neuen, geopolitischen Phase betrachten:

  • Investitionen: Europa investiert mehr in die Energiewende als China und die USA, wie Zahlen des Marktforschungsdienstes BNEF zeigen: Europa kam letztes Jahr auf 166 Milliarden US-Dollar, China auf 135 Milliarden und die USA auf 85 Milliarden.
     
    Enthalten sind hier nicht nur Investitionen in Erneuerbare, sondern etwa auch in Elektroautos. Der Wettbewerb dürfte allerdings härter werden: Der neue US-Präsident Joe Biden will in den nächsten vier Jahren zwei Billionen Dollar in Klimainfrastruktur investieren.
  • Technologien: Die EU meldet deutlich mehr "grüne Patente" an als die USA, Japan oder China. Das gilt besonders für Technologien, die sowohl grün als auch digital sind, wie die Europäische Investitionsbank EIB herausgefunden hat.
  • Finanzströme: Damit die Treibhausgasemissionen weltweit schnell sinken, müssen riesige Finanzströme umgeleitet werden. Auch hier ist die EU gut positioniert. Mit der EIB hat sie die weltgrößte Entwicklungsbank. Mehr als die Hälfte aller grünen Anleihen weltweit wurden in Europa begeben, wie Zahlen der Climate Bonds Initiative zeigen.
     
    Und Europas Geschäftsbanken und Versicherungen sind ihren Konkurrenten voraus, indem sie ihre Portfolios schneller von fossilen Altlasten bereinigen.
  • Standards: Internationale Konzerne halten sich oft weltweit an den striktesten Standard, der irgendwo auf der Welt gilt, und das ist meist die entsprechende EU-Vorschrift. Die Möglichkeit, unilateral globale Standards zu setzen, ist auch als "Brüssel-Effekt" bekannt. Die EU nutzt diesen Effekt aktiv, nicht zuletzt weil EU-Firmen dadurch einen Wettbewerbsvorteil erlangen.
  • Wasserstoff: Um Stahl und Zement emissionsfrei herzustellen und den Luftverkehr zu dekarbonisieren, ist viel Wasserstoff als Energieträger erforderlich. Um diesen zu produzieren, werden riesige Mengen an erneuerbarem Strom benötigt, und die EU wird daher einen Teil des Wasserstoffs importieren müssen. Aus welchen Ländern diese Importe kommen und welche Firmen den Wasserstoff produzieren werden, ist aber noch offen.
  • Schwerindustrie: Auch hier hat das Rennen gerade erst begonnen: Wird "grüner Stahl" künftig in Deutschland mit Wasserstoff aus Marokko hergestellt oder aus Australien importiert? Dort steht direkt neben den Eisenerzminen viel Platz für Solarkraftwerke zur Verfügung.
  • Rohstoffe: Metalle aus der Gruppe der "seltenen Erden" sind für Batterien sowie Solar- und Windkraftanlagen wichtig. China kontrolliert hier einen Großteil der Weltproduktion. Diese Abhängigkeit ist in Brüssel bekannt, und die EU verfolgt daher systematisch die Versorgung mit 30 "kritischen Rohstoffen".
  • Drittstaaten: Schließen sich Entwicklungsländer in Asien und Afrika Chinas Infrastrukturinitiative "Belt and Road Initiative" (BRI) an oder arbeiten sie mit Firmen in Europa zusammen? China mag hier einen Vorteil haben, aber die EU und die USA haben diese strategische Herausforderung mittlerweile erkannt. Außerdem sind die EU und ihre Mitglieder die größten Geber von Entwicklungshilfe.
  • Weltordnung: Werden wichtige Regeln etwa für den internationalen Handel mit CO2-Zertifikaten im Rahmen multilateraler Prozesse gesetzt oder gilt zunehmend das Recht des Stärkeren? Hier bekennt sich China bei jeder Gelegenheit wortreich zum Multilateralismus, während die USA unter dem früheren Präsidenten Donald Trump abseits standen. Letzteres könnte sich unter Biden jetzt wieder ändern.

Kurz, Klimapolitik entscheidet von jetzt an, wer die entscheidenden Technologien entwickelt und Standards setzt, welche Finanzzentren wachsen und welche schrumpfen, wo das "Öl der Zukunft" herkommt, wer am meisten Einfluss in Drittstaaten hat und wie es mit der multilateralen Weltordnung weitergeht.

Bei all diesen Fragen ist die EU in einer relativ guten Position. Außerdem hat sie einen seit Jahren funktionierenden Emissionshandel, ein brandneues Klimaziel für 2030 und mit dem 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds das "grünste Stimulusprogramm der Welt" (EU-Klimakommissar Frans Timmermans).

Mittlerweile hat die EU auch niedrigere Pro-Kopf-Emissionen als die USA und China. Der von der Leyensche "Vorreitervorteil", neudeutsch First Mover Advantage, existiert also tatsächlich.

Stolperstein CO2-Grenzausgleich

Eine wichtige Entscheidung steht allerdings noch aus: die Ausgestaltung des CO2-Preises für Importe wie Stahl oder Chemikalien, bei deren Produktion besonders hohe Emissionen angefallen sind – Fachbegriff Carbon Border Adjustment.

Der Grenzausgleich soll verhindern, dass die Herstellung dieser Produkte in Länder mit schwächeren Klimazielen abwandert. Außerdem lassen sich so die EU-Klimaziele "exportieren": Wenn ein Drittstaat für seine Produkte die Bezahlung der Abgabe vermeiden will, muss er nachweisen, dass bei ihm CO2-Emissionen ähnlich viel kosten wie im EU-Emissionshandel.

Wie die Abgabe genau funktionieren wird, soll im Juni entschieden werden. Wichtig ist dabei, dass die Regeln der Welthandelsorganisation WTO nicht verletzt werden und die Abgabe nicht wie ein illegaler Zoll wirkt.

Damit steht die EU vor einer kniffligen, diplomatischen Herausforderung: Die USA wollen eine ähnliche Abgabe einführen und erste Gespräche über ein koordiniertes Vorgehen haben bereits begonnen. Die USA haben auf Bundesebene aber weder einen Emissionshandel noch eine CO2-Steuer. China hingegen hat seit diesem Jahr einen Emissionshandel für Kraftwerke, der auf andere Industrien ausgedehnt werden könnte. Strukturell sind die Systeme in der EU und in China also eher kompatibel.

In dieser Gemengelage ist die Grenzabgabe Chance und Risiko zugleich. Die EU hat die Chance, den Welthandel grüner zu machen, damit Stahl aus teurem Wasserstoff mit Stahl aus billiger Steinkohle konkurrieren kann. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass Länder wie China das als Protektionismus werten und Gegenmaßnahmen ergreifen bis zum Handelskrieg.

Noch ist nicht entschieden, ob der Wettbewerb zwischen den Großmächten beim Klima konstruktiv oder destruktiv wird. Mehr Macht heißt für die EU daher auch mehr Verantwortung.

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